Zuspruch


Peter Burkhard


„Gemeinsinn kommt vor Eigensinn und das Gemeinwohl vor dem Eigennutz!“ Nur diese Worte hat der alte Mann gesagt und augenblicklich kehrte Ruhe im Klassenzimmer ein. Ich war noch jung und verstand überhaupt nichts! Später kreuzten viele weitere gute Menschen meinen Lebensweg. Sie haben mir dies und das erklärt, mir meinen Geist erleuchtet. Irgendwann in meinem Werden begriff ich endlich, was der alte Mann gemeint haben muss. Dass mich diese Worte ein Leben lang begleiten würden wusste ich damals allerdings nicht, auch nicht, dass bereits am Horizont ein neuer „guter Ton“ sich aufmachte, die Herrschaft in unserer Welt anzutreten.

Gemeinsinn und Gemeinwohl wurden fortan belächelt, mies geredet und als „Gutmenschentum“ verspottet. Gefordert wird mehr Ellbogenfreiheit, Durchsetzungsfähigkeit – was für ein grauenhaftes Wort, ohne Vollsuff nicht zu ertragen – also diese Durchsetzungsfähigkeit steht an erste Stelle jeder erfolgreichen Karriere. Egal „wie viele Leichen“ am Strassenrand liegen bleiben; solange der Gewinn stimmt müssen auch Kollateralschäden akzeptiert werden! Und recht hat der Alt-Nationalrat… „warum sollten wir Geld in die Entwicklungszusammenarbeit stecken, uns hat auch niemand etwas gegeben“ … stimmt schon, wir haben es uns immer selber genommen!

Und dann kommt dieser beschissene Fiesling und nichts ist mehr wie zuvor. Dieser Winzling schafft es doch tatsächlich, fest geglaubtes „über Nacht“ total in Frage zu stellen. Der Bundesrat spricht von Solidarität, meint gar es müsse jetzt ein Ruck durch die Bevölkerung gehen, wir hätten dieses Schicksal gemeinsam zu tragen. Das kommt in unserer Ellbogengesellschaft nicht gut an. Einstehen für einen Fremden, den ich nicht mal kenne, Rücksicht nehmen auf Alte, die eh nicht mehr produktiv sind. Das klingt in vielen Ohren wie Verschwörung.
Da verwundert es auch nicht, dass ein Kantonsrat hinter den Corona-Massnahmen kommunistische Allmachtsphantasien vermutet. Vernünftigerweise stellt sich eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der neuen Herausforderung und es schwappt eine grosse Welle der Solidarität über die Schweiz.
Sogar die vormaligen Schreihälse und Dummschwätzer*innen sind angesichts schier endlos langer Menschenschlangen bei der Essensausgabe verstummt. Kein Wort von Gürtel enger schnallen, verweichlichten Mitmenschen und aufgeblasener Sozialindustrie. Ganz im Gegenteil, die Wirtschaftsliberalen haben auf leise geschaltet, laut ist nur noch der Ruf nach staatlicher Hilfe.

Und das ist auch gut so. Nur gemeinsam – und gemeinsam meint weit über unsere Landesgrenze hinaus – also nur gemeinsam können wir die drängendsten Probleme angehen. Und nicht wahr, neben Corona sollten und müssen wir uns mit weiteren Pandemien beschäftigen. Da ist der Klimaschutz, der sorgsame und nachhaltige Umgang mit unserer Mit- und Umwelt. Die Einhaltung der Kinder- und Menschenrechte.
Weltweit müssen wir einstehen für die Gleichwertigkeit aller Menschen, das heisst auch unsere Stimme erheben gegen jede Form des Sexismus und des Nationalismus.

Ganz aktuell müssen wir darauf achten, dass nach einigermassen überstandener Krise nicht der alten Ellbogengesellschaft unhinterfragt wieder der rote Teppich ausgerollt wird.


Der Beitrag wurde für den Affolter Anzeiger, Rubrik „Randnotizen“ geschrieben und dort veröffentlicht


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