Solidarität! – Solidariwas?


Ueli Simmel


Erosion der gesellschaftlichen Solidarität im Zeitraffer

Einverstanden: in unserer zunehmend konkurrenz- und wettbewerbsorientierten Gesellschaft ist die gesamt-gesellschaftliche Solidarität schon länger am erodieren. Schwer unter Druck vom ungebrochenen Trend zum Individualismus. Vom Zwang (oder Hang?) nach Selbstoptimierung und -verwirklichung. Vom Bedürfnis, persönliche Freiheit sehr weit, aber exklusiv mit Blick auf die eigene zu interpretieren. Vom anscheinend unvermeidlichen Drang nach Instant-Bedürfnisbefriedigung. „Ich will alles!“ „Jetzt!“ „Ich habe ein Recht darauf!“
Von wegen «we can», Hauptsache «I can».

Diese Erosion lässt sich im Verlauf der Corona-Pandemie und unserem Umgang mit ihren vielschichtigen Folgen schon beinahe exemplarisch und wie in einem Zeitraffer nachzeichnen, am einfachsten am Beispiel des Verhaltens der Corona-Massnahmen-Gegner*innen.

Noch vor einem Jahr, im ersten (im internationalen Vergleich eher ’soften‘) lockdown, haben wir uns grossmehrheitlich an die Massnahmen gehalten und dadurch wohl Schlimmeres verhindert – vielleicht haben die Angst vor dem Unbekannten und die Schreckensbilder aus Norditalien, quasi vor der Haustüre, ja dabei geholfen: besser vorsichtig sein, vielleicht trifft’s mich ja auch…
Jedenfalls sind damals die Intensivstationen gerade so an der Überlastungsgrenze entlang geschrammt; dem zunehmend im roten Bereich laufenden Spitalpersonal hat man mit Applaus gedankt (das war’s dann aber schon).

Nicht einmal ein Jahr später und mit ein paar Erkenntnissen mehr wissen wir: wichtigstes Ziel der getroffenen Massnahmen ist es, gesundheitlichen Schaden – von qualvollem Sterben ganz zu schweigen – wo immer möglich zu vermeiden; und wir wissen nach allen Erfahrungen der letzten Monate, dass die Massnahmen dies auch bewirken – – – je besser, je konsequenter wir Menschen uns daran halten (würden).
Was abgeht, wenn die Situation verharmlost, die Infektion als harmlose Grippe abgetan, gar schlicht geleugnet wird und Massnahmen zu spät oder erst mal gar nicht getroffen werden, kann man sich in den USA (noch unter der Trump-Administration), Brasilien, GB (bis der Premier selbst erlebt hat, was es heissen kann, an Covid-19 zu erkranken) oder jetzt im Spätfrühling ’21 dramatisch in Indien vor Augen führen. Die Liste liesse sich fortsetzen.

Als gäbe es diese konkreten Erfahrungen nicht, schreien – Protestplakate gegen die «Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte», gar der «Verletzung der individuellen Grund- und Menschenrechte» über sich schwenkend – quer durch alle Altersgruppen (Kinder ausgenommen, die werden perfid als menschliche Schutzschilde gegen polizeiliche Interventionen mit auf die Demos geschleppt) heute die am lautesten, die entweder (noch) nicht von einer Infektion betroffen sind oder die für sich auf einen «nicht schwerwiegenden» Verlauf spekulieren. Und damit man sie auch weitherum hört, tun sie dies ohne Mundschutz und im Chor.
Ganz zu schweigen von denen, die ohne Symptome an Covid-19 erkrankt sind und andere unwissentlich anstecken; die allerdings machen das ja nicht vorsätzlich.

Dass es in allen Altersgruppen Hoch- und Höchstrisiko-Patient*innen gibt, für die eine Infektion fatal wäre – auch Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene mit einem warum auch immer geschwächtem Immunsystem – wird (absichtlich?) übersehen. Deren Integrität scheint nichts zu gelten.
Dass also mit dem Trichterblick auf die Durchsetzung der eigenen Freiheit sehr schnell diejenige des oder der Anderen verletzt wird – u.U. bis hin zu gravierenden Folgen für deren körperliche (und psychische) Unversehrtheit – wird in den toten Winkel dieser egozentrischen Kurzsichtigkeit geschoben.
Man inszeniert sich als „Obrigkeits-kritisch“, fährt am Abend wieder nach Hause, verkündet am nächsten Tag, dass sich an der Demo ja niemand angesteckt habe (auf Hin- und Heimweg selbstverständlich auch nicht). Es darf vermutet (oder für einmal unterstellt) werden, dass diese Leute sich mit grosser Wahrscheinlichkeit jeder Art von Testung zu entziehen versuchen, und so bleibt in der Infektionsstatistik als Erklärung oft nur die hilflose Kategorie „in der Familie angesteckt“. … Und 2 Wochen später müssen dann überraschend irgendwo wieder ganze Schulklassen in Quarantäne … honi soit qui mal y pense.

Dass, wie könnte es anders sein, sofort Lobbyisten, bestimmte Branchenverbände und Politiker*innen mit ebenso populistischen wie unverantwortlichen Forderungen auf den Zug aufspringen, ist am Ende auch nicht wirklich überraschend. «Alles öffnen! Sofort!» «Diktatur!» Gleich und gleich gesellt sich halt gern.

Kurzum: nach bereits weniger als einem Jahr lassen diese Demonstrant*innen aber auch nicht einen Hauch Zweifel daran, dass sie mit Solidarität nichts, aber auch gar nichts am (Alu-?)Hut haben.


Zum Schluss noch ein Gedankenspiel:
Wie laut würden die Massnahmen-Gegner*innen wohl aufjohlen, was für Plakate würden sie schwenken, wenn Hunderte, ja Tausende zunehmend aggressiv dafür demonstrieren würden, allen Massnahmen-Gegner*innen im Infektionsfall (der ja eh nicht eintritt…Ironie off) den Zugang zu medizinischer Hilfe, spätestens zu intensiv-medizinischer Pflege, konsequent zu verweigern, damit ganz sicher genügend Betten für die an Covid-19 Erkrankten, postoperativen oder Unfall-Patient*innen vorhanden bleiben?


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